Zu schnell für den Dienstweg

Vom verzweifelten Versuch, sinnvolle Gedanken in strukturierte Systeme zu pressen.

Du weißt, dass du nicht blöd bist. Im Gegenteil – manchmal hast du das ungute Gefühl, dass du zu viel siehst. Zu viel weißt. Und zu wenig sagen darfst. Jedenfalls nicht so, dass es ankommt. Denn was passiert, wenn du das Offensichtliche aussprichst? Genau: Du klingst wie ein arroganter Streber oder schlimmer, wie jemand, der „die Führung untergräbt“. Willkommen im Hamsterrad der Hochbegabten in Hierarchien.

Wenn Denken zur Zumutung wird

Die Grundfrage lautet nicht: Kannst du führen?
Sondern eher: Darfst du denken, während andere führen?

Denn:

  • Du siehst Muster, wo andere noch Zahlen sortieren.

  • Du entwickelst Lösungen, bevor das Briefing final ist.

  • Du gehst gedanklich in die nächste Abteilung, obwohl deine Aufgaben „nur den eigenen Bereich“ betreffen.

Und genau das ist das Problem.

In klassischen Strukturen ist „Querdenken“ (also das echte, nicht das politische Krawall-Label) nicht erwünscht. Wer zu viel erkennt, überfordert Systeme, die auf Stabilität statt Sinn gebaut sind.

Der Sinn: Das heimliche Zentrum deiner Motivation

Du willst Sinn. Nicht „Purpose™“, nicht „New Work mit Yogamatte“, sondern:

  • etwas, das funktioniert – besser als vorher,

  • etwas, das anderen nützt – nicht nur dir,

  • etwas, das richtig ist – nicht nur genehmigt.

Doch wenn Leistung an Position gekoppelt ist und Anerkennung erst mit Jobtitel X startet, hilft dir deine innere Wahrhaftigkeit gar nichts. Dann wirst du mit hochgezogenen Augenbrauen gefragt:
„Woher wissen Sie das?“ Als wäre Erkenntnis eine Funktion des Gehalts.

König im Denken, Narr in der Struktur?

Du fühlst dich manchmal wie ein König, der ein Schachbrett sieht und gleichzeitig wie ein Narr, weil du angeblich „nicht zuständig“ bist. Deine Kompetenzen werden gebraucht, aber nicht offiziell gewürdigt. Das macht dich:

  • entweder rebellisch (und unbeliebt),

  • oder still (und übersehen),

  • oder sarkastisch (und damit auch wieder unbeliebt).

Du übernimmst Verantwortung, aber niemand nennt es so. Weil du keine Führungskraft bist, nur ein „normaler“ Mitarbeiter mit einem abnorm weiten Blickfeld.

Du gibst Impulse, aber das mittlere Management blockiert sie. Weil du deren Komfortzone sprengst. Weil du an deren politischem Einfluss kratzt.

Du gehst in Deckung und fühlst dich innerlich falsch. Weil du weißt, dass du mehr geben könntest. Wenn man dich nur ließe.

Und wofür das Ganze?

Nicht für Macht. Sondern für Klarheit. Für die Lust, Dinge richtig zu machen. Für eine innere Ordnung in einer äußeren Welt voller Chaos-Meetings und Silo-Blockaden.

Und genau das – diese innere Sehnsucht nach Sinn – macht dich verletzlich.

Weil sie kollidiert mit Systemen, die lieber loyal als logisch funktionieren.
Weil sie auf die Anerkennung trifft, die oft zu spät kommt oder gar nicht.

👉 Mehr dazu, wie dieses Nicht-Gesehen-Werden zur unsichtbaren Tragik wird, liest du im zweiten Teil: „Held ohne Applaus“: Warum das Verhindern von Katastrophen selten auf dem Gehaltszettel landet.

Wer bist du eigentlich?

  • Du bist weder König noch Narr.

  • Du bist ein strukturell unerkannter Sinnstifter.

  • Du bist unbequem – weil du nicht nur funktionierst, sondern gestalten willst.

Und das ist nicht dein Fehler. Das ist die Schieflage des Systems.

Was tun? Hier sind 6 Wege, wie du deine Kraft entfalten kannst, ohne zerrieben zu werden:

1. Gestalte deine eigene „Stabsstelle light“ – informell, aber sichtbar

Schaffe dir gezielt Räume, in denen du bereichsübergreifend denken und wirken kannst. Auch ohne offizielle Jobbeschreibung, z.B. in Projekten.

Tipp für die Praxis:
Sag z. B. in Meetings:
„Mir ist beim Blick auf Bereich Y etwas aufgefallen, das für unsere Lösung relevant sein könnte. Darf ich das teilen?“

So bleibst du anschlussfähig, ohne dich kleiner zu machen und etablierst dich als inhaltliche:r Sparringspartner:in, nicht als Besserwisser:in.

2. Entwickle dein persönliches Sinn-Navi

Setz dich bewusst mit der Frage auseinander: Was nährt dich vs. was laugt dich aus?
Nicht alles, was du gut kannst, ist auch gut für dich.

Praktischer Zugang:
Erstelle eine Matrix:

Sinnvoll vs. Sinnlos
Energetisierend vs. Erschöpfend

Und dann? Fang an, deine Zeit in die Felder entsprechenden Felder zu verlagern. Klar, nicht alles geht. Aber bewusst anfangen verändert bereits viel.

3. Kommuniziere deinen Gestaltungsanspruch ohne Machtanspruch

Viele denken: Wer gestalten will, muss führen wollen.
Aber was, wenn du keinen Bock auf disziplinarische Führung hast und trotzdem Einfluss nehmen willst?

Formulier das so:
„Mir ist es nicht wichtig, Menschen zu führen. Mir ist allerdings sehr wohl wichtig, Strukturen zu verbessern. Ich suche Räume, in denen ich das tun kann, ohne Chef zu werden.“

Das zeigt Haltung, Klarheit und dass du reflektierst. Damit entziehst du dich dem Vorwurf, du seist „unklar“ oder „unverbindlich“.

4. Bau Allianzen über dem Dienstweg, aber transparent

Sprich direkt mit Menschen, die deinen Blick wertschätzen. Auch außerhalb deiner Linie.
Aber: Hol dir Rückendeckung. Mach klar, dass du nicht an jemandem „vorbeigehst“, sondern für etwas gehst.

Beispiel:
„Ich habe das Thema mit X abgestimmt und teile meine Gedanken deshalb auch direkt mit dir, weil sie für die strategische Ebene relevant sein könnten.“

Das schützt dich. Und es professionalisiert deinen Grenzgang.

5. Führe über Kompetenz, nicht über Position

Wenn klassische Karrierepfade nicht passen, bau dir einen eigenen: als inhaltliche:r Leader:in.

Starte z. B.:

  • ein internes Wissensformat

  • eine bereichsübergreifende Taskforce

  • ein „Lab“ für Zukunftsthemen

So wirst du von anderen als Autorität erlebt. Nicht, weil du befördert wurdest, sondern weil du Verantwortung übernimmst, wo andere Probleme nur verwalten.

6. Entkopple deine Identität vom System

Am Ende das Wichtigste: Du bist nicht deine Stellenbeschreibung.
Du bist nicht deine Wirkung im System, sondern als Mensch mit Haltung, Ideen und Gestaltungswille.

Praxisidee:
Führ ein Journal. Schreib regelmäßig auf:

  • Was dir wichtig ist.

  • Was du heute bewirkt hast, auch wenn es keiner gesehen hat.

  • Wo du klar warst, auch wenn du nicht gewonnen hast.

Diese Selbstvergewisserung ist kein Luxus. Sie ist Widerstandskraft.

Fazit: Du bist kein Systemfehler. Du bist ein Zukunftstest.

Du bist nicht schwierig – du tickst nur schneller. Und breiter. Und klarer.
Das ist keine Schwäche. Sondern das, was Organisationen dringend brauchen, auch wenn sie es noch nicht alle merken.

Und wenn du irgendwann merkst, dass du trotzdem feststeckst? Dann bau dein eigenes System. Nicht aus Trotz. Sondern aus Liebe zu dem, was möglich ist, wenn niemand dich bremst.

👉 _Wie du deine Wirkung auch dann erhältst, wenn sie strukturell unsichtbar bleibt – das liest du hier: _Artikel 2: Kein Feuer, kein Ruhm.