
Tabu-Thema: Sind Coaches die neuen Narzissten – oder einfach die bessere Version der Menschheit?
Coaching ist eine Profession, die Menschen dabei unterstützt, ihr Potenzial zu entfalten, Ziele zu erreichen und Krisen zu meistern. Doch während wir als Coaches oft den Fokus auf die Persönlichkeitsentwicklung unserer Klienten richten, stellt sich die Frage: Was sagt das über uns selbst aus? Zwei neue Studien werfen ein Schlaglicht auf die Persönlichkeit von Coaches – und beleuchten dabei nicht nur Stärken, sondern auch potenzielle Risiken.
Dieser Artikel wagt sich an ein sensibles Thema: die Persönlichkeitsstruktur von Coaches und die Frage, ob sich unter den positiven Eigenschaften auch Tendenzen zu narzisstischem Verhalten verbergen könnten. Dabei beleuchten wir sowohl die Vorteile gesunder narzisstischer Züge als auch die Gefahren pathologischer Narzissmusausprägungen.
Coaching und Persönlichkeit: Was sagt die Wissenschaft?
Eine aktuelle Studie hat die Persönlichkeitsmerkmale von 559 Coaches untersucht und sie mit einer Normstichprobe der Berufsgruppen verglichen. Die Ergebnisse basieren auf dem Big-Five-Modell, das fünf zentrale Persönlichkeitsdimensionen erfasst:
Extraversion: Kontaktfreudigkeit, Energie und Durchsetzungsfähigkeit.
Verträglichkeit: Mitgefühl, Kooperationsbereitschaft und Vertrauen.
Gewissenhaftigkeit: Disziplin, Verlässlichkeit und Organisation.
Offenheit: Kreativität, Neugier und geistige Flexibilität.
Emotionale Stabilität: Umgang mit Stress und emotionaler Belastbarkeit.
Die Ergebnisse: Coaches – eine außergewöhnliche Gruppe?
Die Studie zeigt signifikante Auffälligkeiten bei Coaches:
Coaches sind extravertierter, verträglicher, gewissenhafter, offener und emotional stabiler.
Insbesondere bei Extraversion und Offenheit sind die Unterschiede stark ausgeprägt (Cohen’s d > 1,0).
Gleichzeitig weisen Coaches in einer anderen Studie höhere Werte in narzisstischer Grandiosität auf – einer Facette des Narzissmus, die mit Selbstbewunderung und dem Streben nach Außergewöhnlichkeit verbunden ist.
Gesunder Narzissmus: Eine unterschätzte Stärke
Bevor wir uns in die Gefahren des Narzissmus stürzen, lohnt sich ein Blick auf die positiven Aspekte. Gesunde narzisstische Züge sind nichts Schlechtes – im Gegenteil, sie sind in Maßen für die Coaching-Arbeit sogar essenziell:
Selbstbewusstsein: Ein gesundes Maß an Selbstvertrauen ermöglicht es Coaches, Klienten zu inspirieren und Führung zu übernehmen.
Motivation: Narzisstische Menschen streben oft nach Exzellenz, was in der Coaching-Branche zu hohen Qualitätsstandards beitragen kann.
Resilienz: Gesunde narzisstische Tendenzen schützen vor Selbstzweifeln und helfen, Herausforderungen zu bewältigen.
Ein gewisses Maß an narzisstischen Zügen kann also durchaus funktional sein – solange es nicht übersteuert wird.
Pathologischer Narzissmus: Wo die Gefahr lauert
Pathologischer Narzissmus hingegen beschreibt extreme Ausprägungen, die in klinischen Diagnosen wie der Narzisstischen Persönlichkeitsstörung (NPD) kodifiziert sind (nach ICD-11 und DSM-5). Die zentralen Merkmale sind:
Übersteigertes Bedürfnis nach Bewunderung: Die Arbeit mit Klienten könnte zum Mittel der Selbstbestätigung werden.
Mangel an Empathie: Eine unzureichende Perspektivübernahme gefährdet die Vertrauensbasis zwischen Coach und Klient.
Grandiosität und Überlegenheitsgefühle: Coaches könnten (un-)bewusst Machtpositionen ausnutzen, was die Neutralität beeinträchtigt.
Die Gefahr liegt darin, dass solche Tendenzen subtil sein können. Gerade im Coaching, wo die Rolle als „Experte“ oft bewundert wird, könnte dies unbemerkt bleiben.
Selektion oder Transformation? Warum Coaches anders sind
Die Studien liefern zwei Hauptansätze zur Erklärung der Unterschiede:
Selektionstheorie: Menschen mit bestimmten Persönlichkeitsprofilen fühlen sich von der Coaching-Berufswahl angezogen. Die Betonung von Kommunikation, Einfühlungsvermögen und Kreativität in der Branche spricht insbesondere extravertierte und offene Persönlichkeiten an.
Entwicklungstheorie: Die Aus- und Weiterbildung sowie die Berufsausübung können Persönlichkeitsmerkmale formen. Beispielsweise könnte die regelmäßige Arbeit mit Klienten die emotionale Stabilität und soziale Kompetenzen fördern.
Beide Theorien sind plausibel – und möglicherweise wirken sie sogar zusammen.
Das Tabu: Narzissmus in der Coaching-Branche
Das Thema Narzissmus wird in der Branche oft vermieden. Doch sollten wir uns nicht fragen:
Wie sehr genießen wir die Bewunderung, die unsere Klienten uns entgegenbringen?
Beeinflusst unser eigenes Bedürfnis nach Anerkennung unsere Neutralität?
Welche Standards setzen wir, um Machtmissbrauch zu verhindern?
Es wäre naiv zu glauben, dass wir als Coaches immun gegen narzisstische Dynamiken sind.
Was können wir tun?
Um sowohl die positiven Aspekte des Narzissmus zu nutzen als auch die Risiken zu minimieren, sollten wir uns auf Selbstreflexion und Weiterentwicklung konzentrieren:
Regelmäßige Supervision: Eine unabhängige Perspektive hilft, blinde Flecken aufzudecken.
Persönlichkeitsentwicklung: Seminare und Workshops zu Themen wie Empathie und Achtsamkeit fördern ein gesundes Gleichgewicht.
Branchenstandards: Coaching-Verbände könnten stärkere Anforderungen an Reflexionsfähigkeit und ethisches Verhalten setzen.
Schlussgedanken: Zwischen Licht und Schatten
Die Ergebnisse der Studien zeigen, dass Coaches in vielerlei Hinsicht ein beeindruckendes Persönlichkeitsprofil haben. Doch genau diese Stärken bergen auch Risiken, insbesondere wenn sie in extreme Ausprägungen abgleiten.
Vielleicht ist es an der Zeit, uns als Branche ehrlich in den Spiegel zu schauen. Sind wir bereit, nicht nur die Persönlichkeit unserer Klienten zu fördern, sondern auch unsere eigene kritisch zu hinterfragen?
Fragen an euch:
Wie reflektiert seid ihr in eurer eigenen Praxis?
Welche Methoden nutzt ihr, um mögliche narzisstische Tendenzen zu erkennen?
Sollte der Umgang mit Macht und Grandiosität stärker in die Coaching-Ausbildung integriert werden?
Ich freue mich auf eure Gedanken, das Tabu brechen und offen darüber sprechen. Eure Kristin von den Gedankenakrobaten.
>> Quellen: https://link.springer.com/article/10.1007/s11613-024-00915-w
https://link.springer.com/article/10.1007/s11613-024-00885-z