Wer bin ich – und wenn ja, in welcher Stufe?
Ein Spaziergang durch Eriksons Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung
Die unbequeme Wahrheit
Vielleicht hast du gedacht, mit 30 „müsste man doch langsam angekommen sein“. Karriere, Beziehung, Klarheit. Denkste.
Egal, ob du gerade Excel-Tabellen jonglierst, an deiner Dissertation verzweifelst oder im Kindergarten über den besten Sandkuchen diskutierst: Wir alle sind auf einer Bühne, die Erik H. Erikson ziemlich genau beschrieben hat. Acht Akte. Acht Konflikte. Acht Chancen.
Und: Wir können uns nicht rausschummeln.
Ein Modell ohne Psycho-Gewäsch einfach erklärt
Erikson teilte das Leben in acht Stufen ein – jede mit einem zentralen Spannungsfeld: Vertrauen vs. Misstrauen, Autonomie vs. Scham, Initiative vs. Schuld, Leistung vs. Minderwertigkeit, Identität vs. Rollendiffusion, Intimität vs. Isolation, Generativität vs. Stagnation, Integrität vs. Verzweiflung.
Klingt wie ein philosophischer Poetry Slam, ist aber im Kern brutal lebensnah. Denn jede Stufe prägt, wie wir uns und die Welt sehen. Und Spoiler: Nur weil du mal „durch“ bist, heißt das nicht, dass du das Thema nicht wieder auf dem Tisch hast.
Stufen mit Augenzwinkern und harter Wahrheit
1. Urvertrauen vs. Misstrauen (0–1,5 Jahre)
Es beginnt mit einem Schrei. Bekommst du Nahrung, Nähe, Wärme oder bleibt da Kälte und Unsicherheit? Wer hier Vertrauen entwickelt, trägt einen inneren Anker durchs Leben. Wer nicht, kämpft später mit dem Gefühl: „Die Welt ist gegen mich.“
👉 Reflexionsfrage: Wie leicht fällt es dir, Hilfe anzunehmen?
2. Autonomie vs. Scham (1,5–3 Jahre)
Kleine Rebellen mit Löffel, Töpfchen und Trotzphase. Hier geht’s um Kontrolle. Wird jedes „Selber!“ bestraft, wächst Scham statt Selbstwirksamkeit. Das Echo? Erwachsene, die ständig fragen: „Passt das so?“
👉 Reflexionsfrage: Wo sabotierst du dich selbst, weil du „nichts falsch machen“ willst?
3. Initiative vs. Schuldgefühl (3–6 Jahre)
„Warum?“ – das Mantra der Kindergartenjahre. Wer seine Ideen ausleben darf, entwickelt Mut. Wer ständig gebremst wird, trägt einen unsichtbaren Schuldrucksack.
👉 Führungstipp: Räume in deinem Team Raum für „Warum-Fragen“ ein. Sie sind Gold wert.
4. Leistung vs. Minderwertigkeit (6–12 Jahre)
Willkommen im Schulsystem: Messen, Vergleichen, Zensieren. Hier entscheidet sich, ob jemand „Ich kann das!“ denkt oder innerlich „Ich bin nicht genug“. Kein Wunder, dass so viele Erwachsene heute Impostor-Gefühle kultivieren wie Zimmerpflanzen.
👉 Gedankenakrobaten-Moment: Ich selbst habe im Studium erst spät verstanden, dass meine Leistungen nicht nur von „Noten“ abhängen – sondern von meinem Zutrauen zu mir selbst.
5. Identität vs. Rollendiffusion (12–18 Jahre)
Teenager-Drama pur: Wer bin ich? Wer darf ich sein? Instagram, Avocados, Orientierungslosigkeit. Wer hier ein Fundament findet, geht stabil ins Erwachsenenleben. Wer nicht, spielt ewig Rollen.
👉 Reflexionsfrage: Welche Rollen spielst du heute noch, obwohl sie dir gar nicht mehr passen?
6. Intimität vs. Isolation (20–30 Jahre)
Nähe ist kein Netflix-Abo. Jetzt geht’s um echte Bindung – beruflich wie privat. Kann ich mich öffnen, auch mit Verletzlichkeit? Wer das schafft, baut tragfähige Beziehungen. Wer nicht, bleibt innerlich allein, auch im Großraumbüro.
7. Generativität vs. Stagnation (30–50 Jahre)
Rushhour des Lebens: Kinder, Karriere, Klimakrise. Hier zählt Weitergabe: Wissen, Werte, Wirkung. Wer keine Aufgabe findet, bleibt stecken im „Wofür das alles?“.
👉 Führungstipp: Frage dich regelmäßig: Was bleibt von meiner Arbeit, wenn ich morgen gehe?
8. Integrität vs. Verzweiflung (ab 60)
Der letzte Vorhang: Schaust du zurück mit Frieden oder mit Hadern? Integrität heißt, das eigene Leben anzunehmen, auch mit Brüchen. Verzweiflung bedeutet: „Hätte ich doch…“
👉 Reflexionsfrage: Welche Kapitel deines Lebens darfst du heute schon versöhnen?
Praxis: Was heißt das für uns?
Führungskräfte: Erkenne, in welcher Stufe deine Mitarbeitenden gerade stecken und reagiere entsprechend. Ein Praktikant in Stufe 4 braucht andere Impulse als eine Kollegin in Stufe 7.
Scanner-Persönlichkeiten: Erlaube dir, mehrere Stufen parallel zu leben. Identitätssuche hört nicht mit 18 auf.
Hochsensible & Hochbegabte: Ihr spürt oft die ungelösten Konflikte anderer. Nutzt das als Ressource, nicht als Last.
Fazit
Eriksons Modell ist keine To-do-Liste, sondern ein ehrlicher Spiegel. Es zeigt: Wir sind nie „fertig“. Jede Stufe bleibt ein Echo in uns und gleichzeitig ein Tor zu neuer Reife.
Führung beginnt da, wo es unbequem wird – genau dort fängt Wirkung an.
Deine Kristin von #Gedankenakrobaten









